Wenn man ein Buch über Requirements-Engineering besprechen will, tut man gut dran, seine eigenen Anforderungen an das Buch zu formulieren. Meine Erwartungen sind:
- Meinen Erfahrungsschatz bestätigt zu sehen.
- Etwas zu lernen, wovon ich bislang wenig bis keine Ahnung hatte.
- Ideen aufgreifen zu können, um in meinen Seminaren bestimmte Themen besser präsentieren zu können.
Weitere Anforderungen sind:
- A1 - Konsistenz: Dem Stoff liegt ein Konzept zu Grunde, an der sich der Inhalt orientiert.
- A2 - Präzision: Anleitungen und Beispiele sind präzise und anschaulich.
- A3 - Angebot: Das Buch bietet Mittel mit Auswahlhilfen an.
- A4 - Fokussierung: Das Buch ist so gestaltet, dass ich mich auf den Inhalt konzentrieren kann.
- A5 - Lesefreude: Das Lesen macht Spaß.
Das Buch
Das Buch von Chris Rupp und ihrem Team besteht aus fünf Teilen:
Im ersten Teil geht es um die Motivation für das Requirements-Engineering. Außerdem wird das Fallbeispiel "Bibliothekssystem" eingeführt, das im ganzen Buch immer wieder aufgegriffen wird.
Die folgenden drei Teile widmen sich den Themen "Anforderungen ermitteln, formulieren und validieren". Zuerst lernen wir, Stakeholder ausfindig zu machen und ihnen die Ziele "abzuluchsen". Die am häufigsten angewendeten Erhebungstechniken werden vorgestellt, ihre Vor- und Nachteile werden erläutert und die Eignung der Technik für bestimmte Situationen wird bewertet.
Der zweite Teil schließt mit 18 Regeln für die Formulierung von Anforderungen in natürlicher Sprache ab, mit deren Hilfe die häufigsten Fehlerarten - Tilgung, unzulässige Generalisierung und Verzerrung - erkannt und beseitigt werden können.
Der dritte Teil, "Anforderungen formulieren", macht rund ein Viertel des Buchs aus. Für das vollständige Formulieren einer Anforderung in natürlicher Sprache werden Satzschablonen angeboten - eine Fundgrube für alle, die in der Prosa-Praxis stehen.
Da das Buch für die breite Praxis bestimmt ist, bleiben die formalen Sprachen außen vor. Diese "Lücke" wird für semi-formale Notationen, allen voran die UML-Notation, genutzt. Die strukturierte Analyse kommt mit dem Kontextdiagramm zu Ehren und die Geschäftsprozessmodellierung mit den Ereignisgesteuerten Prozessketten. Für die Formulierung der Geschäftsregeln bzw. Systemregeln wird die Entscheidungstabelle wieder belebt.
Im vierten Teil lernt der Leser, auf welch mannigfaltige Art die Anforderungen geprüft werden können. Neben verschiedenen Review-Techniken, Simulation und Prototypen begegnen wir Notationen, die im dritten Buchteil eingeführt wurden. Eine für die Formulierung nicht verwendete Notation kann helfen, Fehlendes oder Widersprüche aufzuzeigen. Dieses Modell kann die ursprüngliche Formulierung ergänzen oder gar ersetzen. Ausführlich wird das Thema "Metriken" behandelt.
Ein weiteres Viertel des Buches beansprucht das andere Schwerpunkt-Thema "Verwalten von Anforderungen" im fünften Teil. Unter anderem geht es um die Kennzeichnung der Anforderungen, um Versionen und um Wiederverwendung.
Der sechste Teil des Buchs ist eine Art "Ratgeber für den Alltag". Worauf muss man bei Verträgen achten, mit welchen Konsolidierungstechniken kann man Konflikte unter den Stakeholdern vermeiden und wie kann man die Analytiker dazu bringen, Dinge anders und besser zu machen?
In jedem Kapitel gibt es eine Checkliste: eine Aufforderung, in sich zu gehen und das Kapitel zu reflektieren, um diese guten Gewissens abhaken zu können.
Meine Bewertung
Das Buch ist konsistent (A1).
Die Beschreibungen von Vorgehensweisen sind präzise und die Beispiele sind anschaulich (A2). Viele Praktiker wünschten sich jedoch eine Anforderungsspezifikation für das Bibliotheksystem im Anhang, zumindest ansatzweise.
Es gibt kein Standardvorgehen, in jedem Projekt muss man gut über das Vorgehen und die einzusetzenden Hilfsmittel nachdenken - das legen uns die Autoren ans Herz. Somit wurde meine Anforderung A3 voll erfüllt.
Meine Anforderung hinsichtlich Fokussierung (A4) wurde nicht durchgehend erfüllt. Bei manch einem der in dem Buch zahlreich vertretenen Cartoons suchte ich den Zusammenhang, je Lichteinfall war die andere Schriftfarbe für Beispiele erkennbar oder nicht, manch eine Farbe erwies sich als zu dunkel, auch die Leserlichkeit der Handschrift ist nur auf weißem Hintergrund wirklich gut. Sonst hat der Verlag seine Hausaufgaben aber gut gemacht.
Diese kleinen Unzulänglichkeiten trübten meine Leserfreude (A5) nicht. Das Buch liest sich trotz der vielen Autoren flüssig. Insgesamt wurden meine Erwartungen erfüllt: Ich werde im Buch nachschlagen, wenn ich vergessen habe, wie es genau geht, oder Anregungen für eine Folie brauche.
"Unser Ziel war es, Ihnen mit diesem Buch eine pragmatische Anleitung für die fundierte, erfolgreiche Arbeit mit Anforderungen zu geben", schreiben die Autoren im Vorwort. Ich bilde mir ein, dass ich schon bislang fundiert mit Anforderungen umgegangen bin. Um dies in Zukunft noch fundierter zu tun, dafür habe ich Anregungen im Buch gefunden.
Diese Rezension wurde erstmals in OBJEKTspektrum 01/2010, S. 84, www.objektspektrum.de veröffentlicht.