Systemisches Projektmanagement
Systemisches Projektmanagement
Der Begriff "Systemisches Projektmanagement" ist in keiner Richtlinie definiert und wird von jedem Benutzer individuell interpretiert. Die häufigste Verwendung findet er bei Beratungsunternehmen, die ihre Dienstleistungen für Projektmanagement durch den Zusatz "systemisch" aufwerten und vom Wettbewerb abgrenzen wollen, ohne es inhaltlich einzuengen. Weiterhin findet der Begriff "Systemisches Projektmanagement" Anwendung bei Fortbildungsangeboten, wobei dies meist ein Hinweis darauf ist, dass der Schwerpunkt der Schulung auf Führungsthemen liegt.
Systemisches Projektmanagement – fachliche Bezüge
Die Begriffsbildung "Systemisches Projektmanagement" ist streng genommen ein Pleonasmus. Denn Projektmanagement ist per Definition das Management eines Systems, nämlich eines Projekts. Der Begriff "System" bezeichnet lediglich eine Menge miteinander in Beziehung stehender Elemente. Wenn man nun diesen Aspekt – miteinander in Beziehung stehende Elemente bilden ein komplexes Objekt – explizit durch das Attribut "systemisch" hervorhebt, dann soll in der Regel betont werden, dass zusätzlich zu den pragmatisch ausgerichteten Vorgehensweisen des Projektmanagements weitere Aspekte einer übergeordneten Disziplin berücksichtigt werden. In Frage kommen in diesem Fall die ↑soziologische Systemtheorie, deren prominentester Vertreter ↑Niklas Luhmann ist, und die technische Systemtheorie, die ↑Kybernetik, die untrennbar mit dem Namen ↑Norbert Wiener verbunden ist.
Die Verbindung von Kybernetik und soziologischer Systemtheorie schließlich mündet in Ansätzen wie z.B. der ↑Soziokybernetik. Allerdings gibt es für diese Ansätze noch keinen allgemein anerkannten Rahmen, so dass der Interpretationsspielraum für ihre Anwender sehr groß ist.
Weiterhin wird der Begriff "systemisch" in der Psychologie und Sozialen Arbeit für einen Beratungsansatz verwendet, der die Beratung bzw. Therapie nicht auf das Individuum beschränkt, sondern dessen Beziehungen zu anderen sozialen Systemen berücksichtigt. Die ↑Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF) vertritt diesen Beratungsansatz als Fachverband in Deutschland.
Erläuterungen und Kommentar
Anwendung der soziologischen Systemtheorie auf Projektmanagement
Da es sich bei Projektorganisationen um temporär bestehende, soziale Systeme handelt, erscheint es auf den ersten Blick sinnvoll, die Erkenntnisse der Soziologie auch in das Projektmanagement einfließen zu lassen. Allerdings ist die soziologische Systemtheorie eine überaus anspruchsvolle Wissenschaft, deren Gegenstand die menschliche Gesellschaft insgesamt ist. Solange es sich also um Projekte handelt, die sich aus Sicht der Systemtheorie lediglich z.B. im Wirtschaftssystem befinden, erscheint ihre Anwendung auf ein vergleichsweise simples System wie z.B. ein Projekt zur Entwicklung und Einführung einer Software als unangemessen.
Wenn das Projekt hingegen systemübergreifend ausgelegt ist und z.B. das Rechtssystem und das politische System beeinflusst, dann erscheint die Anwendung der soziologischen Systemtheorie nicht nur als angemessen, sondern sogar als erfolgsentscheidend. Typische Beispiele für Projekte dieser Art sind Sozialprojekte, große Infrastrukturprojekte (Energiewende) oder Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Beispiel für die Einbeziehung der soziologischen Systemtheorie in das Projektmanagement ist der ↑Logical Framework Approach.
Anwendung der Kybernetik / Soziokybernetik auf Projektmanagement
Im Gegensatz zur soziologischen Systemtheorie beeinflusst die Kybernetik implizit die Entwicklung des Projektmanagements. Mit der zunehmenden Prozessorientierung seit der 1990er Jahre beschreiben die Projektmanagementsysteme wie z.B. der PMBOK® Guide oder PRINCE2® die Steuerung eines Projekts immer mehr durch Regelkreise. Insbesondere ein rein kennzahlenorientiertes Controllingsystem wie das ↑Earned Value Management ist ein typischer kybernetischer Regelkreis. Eine explizite Übertragung der Kybernetik auf Projektmanagement wird derzeit jedoch nicht diskutiert.
Allerdings gibt es mit der sog. Management Cybernetics, die auf ↑Stafford Beer zurückgeht, den Ansatz, Kybernetik allgemein auf Managementsysteme anzuwenden. Diesen Ansatz speziell für Projektmanagement zu formulieren ist noch eine Marktlücke für Beratungsunternehmen.
Anwendung der systemischen Beratung auf Projektmanagement
Die Verwendung des Begriffs "systemisches Projektmanagement" dürfte sich in den meisten Fällen wohl auf die systemische Beratung beziehen. Allerdings bezieht sich diese auf das typische Setting, bei dem ein Berater (Therapeut) mit einem Klienten arbeitet. Der systemische Ansatz besteht dabei darin, dass das soziale Umfeld des Klienten in die Beratung einbezogen wird.
Im originären Sinne kann die systemische Beratung daher nicht auf das Projektmanagement angewendet werden – es sei denn, man betrachtet die Projektbeteiligten als zu therapierende Klienten. Im übertragenen Sinne haben die Prinzipien der systemischen Beratung allerdings ihre Berechtigung bei Organisationsentwicklungsprojekten (OE-Projekten), da hier sowohl individuelle Interessen der Projektbeteiligten als auch des wirtschaftlichen Systems berücksichtigt werden müssen, in dem sie sich befinden.
Die Kenntnis und Befähigung zur systemischen Beratung erscheint dabei allerdings eher als notwendige Fachkompetenz zur Durchführung von OE-Projekten als eine Veränderung des Projektmanagements. Bei einem OE-Projekt sind aus Projektmanagementsicht lediglich die zu liefernden Ergebnisse, wie z.B. ein allgemein akzeptierter und gelebter Geschäftsprozess zur Kundenbetreuung, andere als bei einer Produktentwicklung.
Fazit: Zu schade für ein Buzz-Word
Die inflationäre Verwendung des Begriffs "systemisches Projektmanagement", insbesondere in Zusammenhängen, bei denen er als unangemessen angesehen werden kann, wertet die eigentliche Bedeutung systemorientierter Ansätze ab. Überall da, wo es lediglich darum geht, das Projektumfeld zu analysieren und komplexe Zusammenhänge zu berücksichtigen, geht es ganz einfach um Projektmanagement an und für sich.
Berechtigt ist die Rede von "systemischem Projektmanagement" erst dann, wenn es sich tatsächlich um Projekte handelt, die soziale Systeme zum Gegenstand haben und das Ziel haben, diese zu verändern.