"Wozu brauchen wir Projektmanagement? Wir sind doch agil!" Ein Chef sieht rot

Stellen Sie sich vor, Sie moderieren einen Workshop, alles läuft prima, die Teilnehmenden arbeiten fleißig mit – da stürmt der Chef nach vorne und erklärt vor versammelter Mannschaft: "So geht das alles gar nicht!" Ist mir passiert. Wie macht man da weiter?

"Wozu brauchen wir Projektmanagement? Wir sind doch agil!" Ein Chef sieht rot

Stellen Sie sich vor, Sie moderieren einen Workshop, alles läuft prima, die Teilnehmenden arbeiten fleißig mit – da stürmt der Chef nach vorne und erklärt vor versammelter Mannschaft: "So geht das alles gar nicht!" Ist mir passiert. Wie macht man da weiter?

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Ich sollte einen 2-Tages-Workshop zum Thema Projektmanagement halten. 22 Führungskräfte hatten sich angemeldet, zwei davon hatten im Vorfeld mit Nachdruck darauf hingewiesen: "Wir brauchen den Workshop! So geht das nicht weiter! Wir sind alle völlig überlastet! Wir brauchen endlich ein funktionierendes Projektmanagement!"

Also gab ich zum Workshop-Auftakt eine Einführung in die Grundlagen des Projektmanagements; kein Powerpoint, alles schön interaktiv mit Pinnwand und Flipchart. Die Führungskräfte arbeiteten motiviert mit.

Wir erarbeiteten gemeinsam unter anderem: Wie schnürt man Arbeitspakete? Wie schätzt man deren Dauer ab? Welche Abstimmungsprozesse sind im Projekt nötig? Die Leute meldeten sich fleißig, die Anschriebe wuchsen und wuchsen – bis der Geschäftsführer rot sah und nach vorne stürmte. 

"Wir brauchen das nicht!"

Der Geschäftsführer zeigte auf unsere Anschriebe an Pinnwand und Flipchart und erklärte: "So läuft das bei uns nicht! Das alles brauchen wir nicht. Wir sind nämlich agil." Totenstille im Raum. Ich war verblüfft. Nicht nur wegen des Geschäftsführers, sondern weil es still blieb. Offensichtlich teilten die Teilnehmer nicht die Meinung des Chefs, wagten es aber nicht, das auch laut zu sagen.

Bei näherem Hinschauen glaubte ich zu erkennen, dass sie nicht einmal wussten, was der Chef meint. Ich auch nicht. Also fragte ich nach, was er mit "agil" meine. Er sagte: "Wir machen alles agil, weil bei unseren Projekten die Ziele sowieso nicht von vorne herein klar sind und weil wir auch überhaupt keine Leute für Projekte haben. Deshalb können wir das nur agil machen." Wow. Wie soll das gehen?

Agil statt Projektmanagement

Projekte wurden in diesem Unternehmen bislang ohne Ziele begonnen und auch ohne verfügbare Ausführende. Das erklärt im Rückblick, warum die 22 Führungskräfte so scharf waren auf den Workshop: Sie waren von der Lawine der auf diese Weise gestarteten und regelmäßig chaotisch ausgearteten "Projekte" schlicht erschlagen, völlig überfordert.

Der Chef aber dachte, dass "agil" bedeutet: keine Ziele, keine Leute, keine Projektplanung. Projekte werden einfach nach dem Kneipen-Motto vergeben und "geplant": Eins geht immer noch rein!

Das Ergebnis: Seine Leute waren nicht nur völlig überlastet, die Projekte floppten und verzögerten sich auch reihenweise. Die 22 Führungskräfte wollten das mit Projektmanagement in den Griff bekommen. Der Chef nicht.

Ist "agil" der Wilde Westen?

An dieser Stelle im Workshop hätte ich dem Chef auch den Stift in die Hand drücken und sagen können: "Dann machen Sie das doch bitte weiter so agil!" Doch insbesondere die beiden erwähnten Führungskräfte sahen mich geradezu flehentlich an, sie nicht in dieser Hölle der missverstandenen Agilität zurückzulassen. Daher fragte ich den Chef: "Und agil funktioniert ohne Projektverantwortliche, ohne Teammitglieder, ohne feste Vorgehensweise, ohne alle Regeln?"

Das gab ihm zu denken. Also ließ er sich mit vereinten Kräften dazu überreden, dass wir wenigstens eine Checkliste der besten Vorgehensweisen beim Projektmanagement aufstellen. Eine Checkliste – kein PM-Handbuch, keine verbindlichen Standards und Absprachen, keine PM-Methoden und auch keine PM-Software. Die Gesichter der Teilnehmer wurden immer länger. Warum macht ein Chef sowas?

Warum machen Chefs das?

Erstaunlich, dass es in unseren Zeiten immer noch Unternehmen gibt, die ohne Projektmanagement "Projekte" "managen" und das auch noch offensiv vertreten. Erstaunlich auch, dass etliche jener Führungskräfte und Teammitglieder, die auf diese Weise arbeiten müssen, Ideen haben, wie man es besser machen könnte und z.B. einen PM-Workshop organisieren.

Bei so einer wachen und engagierten Belegschaft müsste ein Chef doch begeistert applaudieren und sagen: "Ihr habt eine Idee, wie wir unser Projektmanagement besser machen können? Nur zu, legt los und – danke!"

Stattdessen sieht der Chef rot, stürmt nach vorne, unterbricht den Workshop, bremst seine Leute aus und demotiviert alle Anwesenden. Wieso macht er das? Klar, logisch, wegen Command & Control: Der Chef sagt, wo’s langgeht – nicht die völlig überlasteten Führungskräfte und "Projektteams". Dass es auch anders geht, erlebte ich zwei Wochen später.

Es geht auch anders

Wieder ein 2-Tages-Workshop, wieder ein aktueller Anlass. Ein Unternehmen hat schon über fünfzig Projekte, drei davon Prio1-Projekte, jetzt soll ein viertes Projekt mit Top-Priorität hinzukommen und alle fragen sich: "Wie sollen wir das auch noch stemmen? Wir sind doch jetzt schon total überlastet!"

Daher der Workshop. Auftrag: Projektinitialisierung. Wir sollen grobe Ziele, einen groben Zeitplan und eine grobe Risiko-Analyse erstellen. Nach lediglich zwei Tagen haben wir das Projekt so durchgeplant, dass sich herausstellt: Wenn die Projektmitglieder einen Tag pro Woche für das vierte Projekt freigestellt werden, dann läuft das Projekt 4,5 Jahre, benötigt 8.100 Projekttage und 45 Teammitglieder. Das ist sensationell! Aus zwei Gründen.

"So haben wir das noch nie gemacht!"

Zum einen wurde so eine Grobplanung – bei über 50 Projekten – noch nie gemacht. Zum anderen erkennt der Lenkungsausschuss zum ersten Mal in der langen Historie des Unternehmens: "Das geht ja gar nicht! Wir können die benötigten Teammitglieder doch gar nicht für einen Wochentag freistellen! Dafür haben wir viel zu wenig Leute und zu viele andere Projekte – und auch noch die eigentliche Arbeit!"

Doch der Lenkungsausschuss beschließt daraufhin nicht wie der Chef, der rot sah, dass Projekte dann eben "agil" gemanagt werden. Er beschließt vielmehr: "Dann müssen wir andere Projekte niedriger priorisieren und niedrig priorisierte Projekte auch mal kürzen, verschieben oder ganz einstellen." Das nennt man Multiprojektmanagement, was ebenfalls noch nie gemacht wurde in diesem Unternehmen. Doch erst damit werden Projekte und auch das ganze Unternehmen im Wortsinn steuerbar. Das ist eine bahnbrechende Erkenntnis.

Eine bahnbrechende Erkenntnis

Im zweiten Unternehmen gewinnen die Verantwortlichen diese Erkenntnis aus der neuen, erstmals durchgeführten Grobplanung eines Projekts – und organisieren daraufhin erstmalig ihre Projekte und Ressourcen neu. Im ersten Unternehmen, in dem der Chef rot sah, müssen die betroffenen und völlig überlasteten Führungskräfte und Teammitglieder wohl erst einen kollektiven Burnout erleiden, bevor sich diese Erkenntnis durchsetzt – vielleicht nicht einmal dann.

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Alle Kommentare (4)

Guest

Agil ist nicht das Allheilmittel gegen Überlastung - in diesem Artikel wird dagegen Multiprojektmanagement propagiert. Aber wo ist die Erkenntnis dahinter? Wie kann man gegen die falsch verstandene Agilität argumentieren?

Klaus D.
Tumuscheit

Antwort auf von Gast (nicht überprüft)

Guten Tag Herr Liebenwald,
gar nicht so leicht, auf die Schnelle die richtigen Argumente zu liefern. Ich mache mir im nächsten Blog-Beitrag dazu einige Gedanken.
Danke und viele Grüße aus Heidelberg
Klaus Tumuscheit

Jürgen
Sturany

Danke Herr Tumuscheit für Ihren absolut realitätsnahen Bericht. So ist es ... das kann ich bezeugen.
PM Grundlagen sind noch meilenweit davon entfernt das sie unsere Fimen / Gesellschaft durchdrungen haben. Aus Sicht eines PM Beraters ein feiner Zustand - aus Sicht der Gesellschaft eine Katastrophe.
Bitte nicht müde werden immer und immer wieder an das Gute im Menschen und im PM zu glauben und es zu verbreiten...
Mit besten Grüßen
Jürgen T. Sturany

Uwe
Mateja

Hallo Herr Tumuscheit,
in jungen Jahren hatte ich eine ähnliche Situation zu verkraften. Damals half mir ein älterer Kollege, es beim nächsten Anlass besser zu machen. Da war für mich der Einstieg in das Thema "Stakeholder Management".

Heute übernehme ich keine (größere) Aufgabe mehr ohne entsprechende (Ziel-) Vorgaben des Auftraggebers. Ein Abgleich dieser Vorgaben mit den erwarteten Zielen ermöglicht es mir zum richtigen Zeitpunkt, Klarheit und Stimmigkeit zu verschaffen und ggf. "unter 4 Augen" vorab zu intervenieren.

Natürlich gibt es immer 'mal wieder 'Ausweichmanöver', wie z.B. "Sie machen das schon". Darauf nehme ich jedoch keine Rücksicht - freundlich, aber bestimmt.

Beste Grüße - Uwe Mateja