Systemisches Projektmanagement – Wie können komplexe Projekte gelingen?

Teil 1

Die Projektmanagementdisziplin ist mittlerweile über 60 Jahre alt. Dies hat aber nicht dazu geführt, dass Projekte mehrheitlich erfolgreich verlaufen. Ganz im Gegenteil. Vor allem große Projektvorhaben enden häufig in Desastern. Gründe hierfür gibt es viele.

Systemisches Projektmanagement – Wie können komplexe Projekte gelingen?

Teil 1

Die Projektmanagementdisziplin ist mittlerweile über 60 Jahre alt. Dies hat aber nicht dazu geführt, dass Projekte mehrheitlich erfolgreich verlaufen. Ganz im Gegenteil. Vor allem große Projektvorhaben enden häufig in Desastern. Gründe hierfür gibt es viele.

In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, dass die Probleme im Projektmanagement tiefer liegen: Haltungen, Werte und Bezugssysteme hindern uns häufig, Projektmanagement wirklich "neu zu denken". Denn mit einer PM-Philosophie des 20. Jahrhunderts werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen können.

Eine Frage des Weltbildes

Aus Wissenschaftsgebieten wie der Kommunikations- oder der Gehirnforschung wissen wir, dass menschliche Wahrnehmung nichts mit Objektivität oder „Wahrheit“ zu tun hat. Jeder von uns konstruiert sich seine individuelle Realität.

Die viel zitierte "Brille", mit der wir die Welt betrachten, ist ein Resultat unseres bisherigen Lebensweges, der Sozialisation, die wir durchlaufen haben und den Erfahrungen, die wir gemacht haben. Daraus manifestieren sich Haltungen, Glaubenssätze und Grundannahmen, die schlussendlich unsere Gedanken, unsere Wahrnehmung und damit auch unser konkretes Handeln beeinflussen.

Über dieses Thema wurde viel geschrieben und gesagt. Um es kurz zu machen: Ich plädiere für ein systemisches Weltbild, ein systemisches Verständnis, mit dem wir die Welt und konkret auch Projekte betrachten. Was meine ich damit?

Eine kleine Gegenüberstellung soll mehr Klarheit bringen:

Rational-mechanistisches Weltbild Konstruktivistisch-systemisches Weltbild
Mensch = Mittel zum Zweck Mensch = Sinn und Zweck
Haufendenken, beginnendes vernetztes Denken Holistisches Denken, Denken in Systemebenen
Wettbewerb Kooperation / Koopkurrenz
Du, ich Ich, wir
Führen = herrschen Führen = dienen
Befehl, Delegation Verantwortung, Vertrauen
Fremdorganisation Selbstorganisation
Linie, Hierarchie Heterarchie, Holarchie
Management Führung
Arbeitgeber Gastgeber
Wissensmanagement Lernende Organisation

Die Liste könnte lange fortgeführt werden. Mit geht es an dem Punkt aber nicht um Vollständigkeit und schon gar nicht den Anspruch, die Themen differenziert darzulegen und zu argumentieren. Vielmehr möchte ich aufzeigen, dass es sich um einen grundlegenden Paradigmenwandel handelt. Wir können uns darauf einlassen, oder eben nicht. Klar ist aber: Das mechanistische Weltbild in Organisationen und im Speziellen in Projekten muss und wird ein Ablaufdatum haben.

Warum systemisches Projektmanagement?

Wenn ein systemisches PM-Verständnis die Antwort sein soll, was war nochmal die Frage dahinter? Einige Gedankensplitter dazu:

  • Wir sind mitten im Übergang von der modernen Industriegesellschaft hin zur vernetzten Kompetenzgesellschaft (s. hierzu auch ein Video von Prof. Dr. Dirk Baecker).
  • Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und alle sozialen Systeme.
  • Eine der zentralen Herausforderungen besteht in der teils explosionsartigen Zunahme der Komplexität. Treiber dieser Entwicklung ist die informationelle Vernetzung.
  • Mit Projekten wird versucht, komplizierte oder komplexe Probleme zu lösen.
  • Mechanistisch-hierarchische Prozesse, Methoden und Organisationsformen sind in diesem Zusammenhang zum Scheitern verurteilt.
  • Ein systemisches Projektmanagementverständnis beginnt mit Fragen wie: Wie können komplexe Projekte gelingen? Welchen Beitrag leisten Projekte überhaupt? Oder noch ursprünglicher: Wie kommt das Neue in die Welt?

Ich lege mich fest: Mit dem (mechanistischen) Projektmanagementverständnis des 20. Jahrhunderts werden wir die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht bewältigen können. Wir brauchen ein Umdenken im Projektmanagement.

Drei Schlüsselfunktionen in Projekten

Die moderne Systemtheorie (s. hierzu auch ein Video von Kambiz Poostchi) beschreibt drei Schlüsselfunktionen, die in sozialen Systemen wahrgenommen werden müssen, um kurzfristigen Erfolg und langfristige Überlebensfähigkeit sicherstellen zu können. Dies sind – übertragen auf Projekte:

Schlüsselfunktionen in Projekten Beschreibung
Projektführung   • Systemerhalt (Autopoiese)
  • Welchen Beitrag leistet das Projekt? Auftrag,
    Vision, Werte, Sinn und Zweck...
  • Führung = Wirken am System
  • Fokus auf Effektivität
  • normativ-strategische Orientierung
  • Innovation und Entwicklung Visionskraft
Projektmanagement   • Systemstabilität (Homöostase)
  • Wie stellen wir die Erreichung der Ziele sicher?
    Ziele, Aufgaben, Termine, Verbindlichkeit...
  • Management = Wirken im System
  • Fokus auf Effizienz
  • operative Orientierung
  • Kontinuität und Stabilität Umsetzungskraft
Projektmarketing   • Systemanpassung (Morphogenese)
  • Wie kommuniziert das Projekt mit dem Umfeld /
    den Anspruchsgruppen?
Design, Form,
    Kommunikation, Dialog, Resonanz...
  • Darstellung der Leistungsfähigkeit und Bedeutung
    des Projekts („Performance“)
  • Vermarktung und Kommunikation Wachstumskraft

Die genannten drei Systemfunktionen werden in kleineren Projekten primär von Projektauftraggeber und Projektleiter wahrgenommen. In größeren Projekten verteilen sich die Funktionen idealerweise auf mehrere Stakeholder, Projektbeteiligte und -rollen. "Systemisch" geführt und koordiniert sind Projekte dann, wenn die genannten Schlüsselfunktionen bewusst und professionell wahrgenommen werden.

Im zweiten Teil zeige ich, wie sich ein systemisches PM-Verständnis umsetzen lässt und gebe dafür zehn Empfehlungen für die Praxis.

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Alle Kommentare (9)

Guest

Spannender Artikel! Heißt das auch, dass Projektmanagement eine noch anspruchsvollere Disziplin wird? Dass Projektmanager noch deutlich mehr Qualifikationen aufweisen müssen? Oder ist es "nur" ein Umdenken und eine andere Betrachtungsweise? Ich freue mich schon auf den zweiten Teil!

 

Stefan
Hagen
Dr.

Antwort auf von Gast (nicht überprüft)

Hallo Fr. Windolph, danke für Ihren Kommentar. Ich denke, dass PM jetzt schon eine anspruchsvolle Disziplin ist. Generell gilt für mich: Wir haben dort keinen Handlungsbedarf, wo Projekte gut funktionieren. Wir alle wissen aber, dass dies leider viel zu selten der Fall ist. Eigentlich sehe ich das Problem weniger in der Qualifikation, sondern vielmehr im BEWUSSTSEIN. Wir tun nach wie vor so, als ob wir mit noch effizienteren Techniken und Methoden die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen können. Vielmehr gilt es aber zu erkennen: "Was uns hierher gebracht hat, wird uns nicht weiter bringen." (in Anlehnung an M. Goldsmith) Grüße! SH

 

Angela
Keiser

Hallo Herr Hagen, vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel. Meine Frage: Wie stellen Sie sich den Prozess der "Bewusstwerdung" für erfahrene Projektmanager vor? Einfaches "Umdenken" reicht sicherlich nicht.

 

Hallo Fr. Keiser, ich denke, dass echtes Umdenken immer folgende 4 Quadranten durchlaufen muss (vgl. "Das innere Spiel", Wallner/Völkl): 1) Neues Denken - Geist 2) Neue Haltung - Herz 3) Neues Tun - Bewegung 4) Neue Erkenntnis - Form Entsprechend müssen wir Lern- und Erlebnisräume schaffen, in denen wir die Menschen nicht nur (aber auch) kognitiv abholen, sondern sie die neue Haltung auch gemeinsam erleben lassen. Nur so ist Lernen 2. und 3. Ordnung möglich. Viele Grüße, SH

 

Guest

Ihr Artikel hat mir sehr gut gefallen. Ich stimme gern zu: mit einem patriarchalischen Managementverständnis aus dem 20. Jahrhundert setzt man kaum erfolgreich Projekte mit der Komplexität des 21. Jahrhunderts um. Ich denke, dass Projektmanagement die Zeichen der Zeit erkannt hat. Agiles PM greift beispielsweise genau das neue Verständnis auf. Als Problem sehe ich eher das Unternehmensmanagement und die Unternehmenskultur, die in vielen Firmen in überholten Strukturen und Denkmustern erstarrt sind. Meine These: Topmanagement hat wenig Motivation, Unternehmen optimal zu managen und zu führen, solange etwas Gewinn erzielt wird. Für einen Machterhalt reicht das Festhalten an bisherige Muster (noch) aus.

 

Guest

Antwort auf von Gast (nicht überprüft)

Hallo Herr Keller, ich kann Ihre Einschätzung aus meinen Projekterfahrungen voll und ganz bestätigen. Ein Umdenken bei den Projektmanagern sehe ich als durchaus realistisch an, zumal ein permanenter Wandel wesentlicher Bestandteil des Projektmanagements ist. Auch Projektteam und einige Stakeholder können möglicherweise dem Wandel folgen. Da die Projekte aber mit steigender Bedeutung und Komplexität immer höher in der Unternehmenshierarchie und damit auch -kultur angesiedelt sind, wird es hier zu einem Aufeinanderprallen der "alten" und der "neuen" Welt kommen, welches auf absehbare Zeit (leider) aus den von Ihnen geschilderten Gründen zugunsten der alten Denkweise entschieden wird. Gerade der Faktor "Machterhalt" bremst im Zweifel jede noch so innovative PM-Kultur aus. Herr Dr. Hagen, es würde mich sehr interessieren, wie Sie diese Diskrepanz bewerten und ob Sie eine optimistischere Sichweise haben. Viel Grüße!

 

Stefan
Hagen
Dr.

Antwort auf von Gast (nicht überprüft)

Hallo Hr. Keller, besten Dank für Ihren Input! Ich bin ja grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Entsprechend bin ich davon überzeugt, dass sich die Paradigmen, Werte und die damit verbundenen Praktiken in der Wirtschaftswelt weiter entwickeln werden. Und wie heißt es doch so schön? Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende ;-) Klar ist aber auch, dass wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lernprozess sehr langfristig sehen. Entsprechend gehe ich davon aus, dass unsere Generation durchaus davon ausgehen kann, dass die Zeiten zuerst turbulenter und schwieriger werden, bevor's in die richtige Richtung geht. Anders formuliert: Offensichtlich ist der Leidensdruck in manchen Bereichen noch nicht groß genug. Leider. LG, SH

 

Guest

es freut mich, auch im Projektmagazin einen qualitativ hochwertigen "systemischen" Beitrag zu finden. Das Wort "systemisch" wird mittlerweile ja recht Inflationär verwendet. Auch ich habe eine mehrjährige Ausbildung bei Kambiz Poostchi genossen. Ich habe erkannt, wie wichtig die 3 Grundprinzipien (Zugehörigkeit, Achtsamkeit und Ordnung) für alle Systeme sind wie sich die Arbeit (bei der Führung von Projektteams) dadurch verändert. Ich kann den Ansatz des Open System Modells nur weiterempfehlen. Buchempfehlung: Der Sinn für das Ganze Schöne Grüße

 

Daniela
Mayrshofer

sehr geehrter herr dr. hagen,

vielen dank für diesen interessanten artikel.

schon die ersten definitionen des projektbegriffs in der zweiten hälfte des letzten jahrhunderts haben die attribute "komplex", "innovativ" und "fachübergreifend" enthalten und damit implizit darauf hingewiesen, dass projekte nur in einer besonderen organisationsform abseits traditioneller führung gewinnbringend bearbeitet werden können. auch weil die meisten projektmitarbeiter nur selten der projektleitung hierarchisch und fachlich unterstellt waren und sind.

für mich als soziologin, die systemtheorie studiert hat, war deshalb von anfang an klar, dass "hierarchie und anordnung" in einem echten projekt nicht funktionieren können. stattdessen ging und geht es bis heute darum:
* erkenntnisse multiperspektivisch zu gemeinsamen bildern zusammenzufügen und dabei wichtige stakeholer aus dem systemumfeld angemessen zu berücksichtigen
* entscheidungen möglichst auf augenhöhe im team zu treffen
* sich wegen der einmaligkeit eines innovativen vohabens als reflektierendes und lernendes team aufzustellen
* konflikte aufgrund unterschiedlicher sichtweisen der beteiligten konstuktiv zu nutzen und zu lösen

in der consensa projektberatung verfolgen wir deshalb den systemischen projektmanagementansatz (wir nennen das "prozesskompetenz im projekt") konsequent seit ende der 80er jahre und haben (fast) alle projekte mit großem erfolg abgeschlossen.

mehr davon finden sie in meinem buch "prozesskompetenz in der projektarbeit", welches als erstauflage ende der 90er jahre erschienen und nach vielen neuauflagen mittlerweile leider nur noch antiquarisch zu beziehen ist.

heute vermischt sich dieser ansatz zumindest in meinem umfeld mit erkenntnissen der agilen transformation, sodass sich die frage nach dem funktionalen einsatz von methoden und denkansätzen im projekt noch viel deutlicher stellt als in weniger volatilen zeiten.

so zu arbeiten ist allerdings anspruchsvoll und erfordert bei vielen menschen einen langen lernprozess, der sich aber am ende sowohl in der persönlichen entwicklung als auch karrieretechnisch auszahlt.

ich bin gespannt auf ihr feedback zu diesem kommentar und würde mich über weiteren austausch zu diesem spannenden thema sehr freuen,

ihre
daniela mayrshofer