Der Wurm im System – und was gegen ihn hilft

Wenn ganz normale Menschen in den Nachrichten ständig von Dieselgate, dem anhaltenden Berliner Flughafendesaster, Kartellabsprachen in der Fahrzeugindustrie oder anderen Wirtschaftskatastrophen hören, fragen sie mich häufig: "Aber wussten die Oberbosse das denn nicht?" Es gibt kriminelle Fälle, in denen die Chefs bewusst betrügen. Sie sind die Ausnahme. In der Regel wussten sie nichts. Weil sie nichts wissen woll(t)en. Diese professionelle Ignoranz hat System.

Der Wurm im System – und was gegen ihn hilft

Wenn ganz normale Menschen in den Nachrichten ständig von Dieselgate, dem anhaltenden Berliner Flughafendesaster, Kartellabsprachen in der Fahrzeugindustrie oder anderen Wirtschaftskatastrophen hören, fragen sie mich häufig: "Aber wussten die Oberbosse das denn nicht?" Es gibt kriminelle Fälle, in denen die Chefs bewusst betrügen. Sie sind die Ausnahme. In der Regel wussten sie nichts. Weil sie nichts wissen woll(t)en. Diese professionelle Ignoranz hat System.

Das System des Nichtwissens

Chefs wollen Erfolg. Chefs wollen gute Nachrichten hören. Was verständlich ist: Wer will schon schlechte Nachrichten hören? Ich nicht, Sie nicht. Der Unterschied ist: Wenn Sie oder ich eine schlechte Nachricht bekommen, reagieren wir und werden aktiv. Wenn im System des Nichtwissens eine schlechte Nachricht nach oben gemeldet wird, meldet das System oder der Vorgesetzte zurück: "Was soll das heißen? Melden Sie gefälligst grün! Das muss doch irgendwie zu machen sein!"

Passiert das häufig, passt sich das System an: Da der Überbringer schlechter Nachrichten nicht schon wieder verbal abgewatscht werden möchte, verschweigt er die schlechte Nachricht dann eben. So lange, bis es zu spät ist. Auf diese Weise produziert das System ständig neue Skandale. Zuverlässig. Endlos. Wir könnten Wetten abschließen: Nach Banken, Energieunternehmen und Fahrzeugindustrie – welche Branche ist als nächste dran? Der nächste Skandal ist gewiss. Denn die Skandale haben System.

Die Ziel-Aversion

Der Treibstoff dieses Systems ist die Ziel-Aversion; die notorische Abneigung gegen klar definierte Ziele. In meinen Projektmanagement-Workshops habe ich schon lange aufgehört, mich zu wundern. Zwei Drittel der teilnehmenden ProjektleiterInnen sagen immer noch: "Wir haben ein Projekt, aber keine klaren Ziele." Statt ein konkretes, klares und quantifiziertes Ziel vorzugeben oder zu vereinbaren, wird gesagt: "Machen Sie mal!" oder "Das muss einfach schneller gehen!" oder "Das Projekt soll Kosten sparen!" Welche? Wie viele?

Keiner ist bereit, in einen Zielklärungsprozess einzusteigen, in dem erst einmal geklärt wird: Wie ist die Situation? Was muss besser werden – und prüf- und messbar um wie viel? Und warum soll sich gerade jetzt verändern? Es ist geradezu zwangsläufig, dass bei fehlenden Zielen gegen Projektende die Panik der Erwartungsdivergenz losbricht: Die Bosse haben viel mehr erwartet, das Projekt kann realistischerweise nicht so viel liefern, der Druck aufs Projektteam explodiert und das System des Grauens rotiert auf Hochtouren.

Der Klassiker: Abweichungen

Das einzige "Ziel", das in vielen Projekten von vorne herein feststeht, ist der Endtermin. Der steht seltsamerweise schon fest, noch bevor ein Projektplan erstellt ist. Der Projektleiter erkennt diese Absurdität der Unmöglichkeit und möchte wissen, wie das gehen soll. Doch für Klärungsfragen steht ihm keiner zur Verfügung. Die Entscheider sind abgetaucht und lassen aus der Teppich-etage vermelden: "Das ist schließlich Ihre Aufgabe!" Nein, ist es nicht – aber wer sagt das den Chefs? Etwa der Aufsichtsrat? Das würde ich mal gerne erleben.

Wenn es dann in absolut logischer Konsequenz im Projekt zu Planabweichungen kommt, läuft das System zur Hochform auf. Der Projektleiter meldet zaghaft Schwierigkeiten an, von oben herab wird ihm gesagt: "Melden Sie gefälligst grün! Da ist doch nichts!" Projektleiter und Team stehen im Regen.

Im Projektleiter-Coaching sagte neulich ein Projektmanager: "Seit Projektstart wurden unsere Ziele fünfmal geändert, das Budget zweimal gekürzt, vier Teammitglieder abgezogen und wir haben einfach zu wenig Ressourcen. Alles hat sich zum Schlechterem verändert, aber der ursprüngliche Plan soll immer noch unverändert gelten? Das geht doch gar nicht." Und wirklich jeder auf der Projektebene merkt: In diesem System ist der Wurm drin. Wie kriegt man den Wurm raus?

Best Practice von oben

Über Dieselgate oder den Kartellskandal in der Automobilindustrie wird oft vergessen: Es gibt sie! Es gibt Unternehmen, in denen das System funktioniert. Jeder Insider, jeder Trainer, Coach und Berater, der schon mal im betreffenden Unternehmen trainiert, beraten oder gecoacht hat, weiß beispielsweise, dass in einem der vom Kartellskandal betroffenen Unternehmen der Automobilindustrie die Firmenkultur herrscht: "Klappe halten!" Das kriegt (übrigens auch heute noch) jeder expressis verbis zu hören, der den Finger hebt und melden möchte: "Ähm, im Keller brennt Licht!"

Es ist klar, dass bei so einer Kultur die Chefs ganz oben wirklich nichts vom Licht im Keller mitkriegen. Alle halten die Klappe – wie ihnen geheißen wurde. In Unternehmen der Best Practice gilt dagegen: "Niemand hört gerne schlechte Nachrichten – aber wir müssen drüber reden! Lieber früher als später." Niemand ist begeistert, aber man setzt sich zusammen und überlegt sich was. Ob man das tut, hängt in erster Linie von den Chefs ab. Sind sie gesprächsbereit, dann spricht man auch mit ihnen – und nicht bloß über sie. Die andere Komponente der Best Practice kommt von unten.

Best Practice von unten

Selbst in Unternehmen mit offener Kommunikationskultur fällt es jedem vernünftigen Projektleiter oft schwer, einen ehrlichen Statusbericht abzugeben. In Seminaren, Workshops und im Coaching ist das ein Dauerbrennerthema: "Wie sag ich’s meinem Chef? Dem Lenkungsausschuss? Dem Auftraggeber?" Ich erinnere mich an eine Projektleiterin aus der Pharma-Industrie, die völlig hin- und hergerissen war: "Was gebe ich ab? Einen 'grünen' Statusbericht oder einen ehrlichen?"

Ich schlug ihr halb scherzhaft vor, doch zwei Fassungen auszuarbeiten: Eine grüne und eine, die sagt, wie es wirklich aussieht im Projekt. Das tat sie. Dann überraschte sie mich. Sie legte den ehrlichen Bericht vor mit der Begründung: "Natürlich kriege ich Druck, wenn die da oben sehen, wie es wirklich aussieht im Projekt. Doch wenn ich das nicht tue und es kommt in fünf Monaten zur Katastrophe, kriege ich zehnmal mehr Druck!" Das ist herausragend.

Die Courage des Projektleiters

Es ist herausragend, weil viele Teams und Projektleiter schon resigniert haben: "Die da oben wollen nicht wirklich wissen, wie es bei uns aussieht." Also schweigen sie und reden schön. Das ist menschlich, verständlich. Es hilft bloß nicht. Niemandem.

Ich weiß, es ist total unfair, von technisch hoch qualifizierten Menschen zu verlangen, auch noch den Mut aufzubringen, den Mächtigen immer und immer wieder die Wahrheit zu sagen. Auch wenn sie diese nicht hören wollen. Dafür wurde kein Ingenieur, Architekt, Bauleiter, kein Mechaniker, Techniker, Laborant, Pharmazeut, Chemiker, Physiker oder Biologe jemals ausgebildet. Das steht in keinem Jobprofil. Aber es ist wirklich das Einzige, was hilft.

Und wenn man die aktuelle schlechte Nachricht nicht mit Katastrophe in der Stimme und hilfloser Gebärde vorträgt, sondern mit ruhiger, klarer Stimme samt drei Lösungsvorschlägen mit klarer Ansage, was passiert, wenn die fällige Entscheidung nicht getroffen wird, befreit man sich nicht nur von der eigenen Ohnmacht, sondern wird auch als souverän, ehrlich, aufrichtig, vertrauenswürdig und kompetent anerkannt. Und das wollen wir schließlich alle.

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Alle Kommentare (1)

Guest

Seit 20 Jahren berate/ coache ich Projekte/ mache PM-Seminare und kann nur den Kopf schütteln über das, was ich in den Unternehmen mitbekomme. Es gibt tatsächlich auch Unternehmen, die so etwas wie eine lernende Organisation sind und in denen relativ ehrlich diskutiert und berichtet und dann auch entschieden wird. Aber sie sind leider in der Minderzahl. Ich erlebe in Deutschland dagegen oft eine Angstkultur, in der mit Mitteln von so tun, als ob man eine Familie ist (was dann gar nicht mehr funktioniert, wenn es mal eng wird), nicht hören wollen bis hin zu Anbrüllen geführt und vor allem nicht entschieden wird. Und der Druck auf die Projektleiter steigt und steigt, nur grüne Meldungen bitte. Die Reaktionen gehen dann von sich noch mehr engagieren und verantwortlich fühlen über burn out bis hin zur Resignation und Dienst nach Vorschrift (Motto: melden macht frei). Und dann kommt noch immer die Frage: wie kann ich die (Projekt-)Mitarbeiter motivieren...

Tatsächlich eine Frage des Systems mit geringen Handlungsspielräumen für den Einzelnen. Ich sage den Projektleitern in meinen Seminaren, dass Projektleitung heißt, sich Respekt zu verschaffen, nicht von allen geliebt zu werden. Schon in der Auftragsklärung für Klarheit sorgen, sich für Planung Zeit zu lassen und bei Problemen aufrichtig lösungsorientiert berichten. Und - ganz wichtig - immer Stakeholdermanagement betreiben! Und auch mal NEIN sagen!