Für eilige LeserInnen: Hier erfahren Sie, was "Critical Chain" bedeutet. Eine verständliche Darstellung der "Theory of Constraints".
Eigentlich hätte ich dieses Buch jetzt nicht besprechen dürfen. Aber als ich den Versandkarton öffnete, konnte ich zuerst die Finger und dann die Augen nicht von diesem Buch lassen. Nicht deswegen, weil es besonders spannend oder anregend wäre - ganz im Gegenteil müssen Sie sich auf eine ziemlich trockene Lektüre einstellen - sondern weil ich schon immer wissen wollte, was jetzt an der angeblich so revolutionären "Theory of Constraints" so toll sein soll.
Beim Lesen drängte sich mir zunehmend ein Vergleich mit einer ganz anderen Thematik auf: Yoga und Feldenkrais. Ganz ähnlich wie Mosche Feldenkrais sein System aus Elementen des Yoga aufgebaut hat und mit einem neuen, mehr abendländischem Überbau versah, holt sich Eliyahu Goldratt traditionelle Problemlösungsmethoden und Management-Ansätze zusammen und baut daraus sein projekt- und prozessorientiertes Modell zur Lösung von Unternehmensproblemen auf.
Mit diesem Vergleich kann jetzt vielleicht nicht jeder etwas anfangen und außerdem hinkt er zugegebenermaßen etwas. Aber die Theory of Constraints erscheint schon weit weniger obskur, wenn wir wissen, dass all die verschiedenen "Bäume" im Wesentlichen Variationen von Ursache-Wirkungs-Diagramm bzw. Funktionsmodellierung sind. Der Management-Ansatz enthält Elemente aus Change Management und Management by Objectives, die taktische Umsetzung ist stark prozess- bzw. projektorientiert.
Die gute Nachricht ist also, dass Goldratt das "Rad nicht neu erfunden" hat, sondern lediglich mehrere Räder zu einer neuen Maschine zusammengesetzt hat. Vielleicht sogar einer goldenen, um im Wortspiel zu bleiben.
Uwe Löbel hat nun die anspruchsvolle Aufgabe übernommen, die ansonsten in Romanen ("The Goal", "It's not luck") vermittelte Theorie Goldratts in einer systematischen und strukturiert dokumentierten Weise dem Fachpublikum näher zu bringen. Dies ist ihm trefflich gelungen, wobei freilich der Unterhaltungswert nicht mit der Romanform konkurrieren kann.
Auch wenn der Autor verständlich und mit klarem, logischen Gedankengang schreibt, wäre ein kleiner Motivationsschub für den Anfang nicht schlecht. Uwe Löbel versucht dies im Rahmen der Einführung damit, die Notwendigkeit von Veränderungsprozessen in Unternehmen darzustellen. Projektmanagern empfehle ich hingegen, mit der Seite 265 zu beginnen. Dort finden Sie den sogenannten "Gegenwartsbaum" für die unerwünschten Erscheinungen des Projektmanagements: Teurer als erwartet, länger als geplant, unvollständige Erfüllung des Pflichtenhefts. Zweck dieses "Previews" soll nicht sein, das Ergebnis schon vorweg zu nehmen - im Gegensatz zum Krimi nimmt das Vorausblättern hier nicht die Spannung. Sinn dieser Empfehlung ist vielmehr, an einem moderat komplexen Beispiel zu sehen, wie aus den am Anfang so einfach anmutenden Elementen ein umfangreiches Netzwerk entsteht, das für scheinbar unlösbare Probleme konkrete Ansatzpunkte für Verbesserungen aufzeigt.
Blättern Sie also ruhig ein wenig in Kapitel 11 "Übertragung des Constraint Managements auf das Projektmanagement", bevor Sie sich an die systematische Erarbeitung der Grundlagen machen. Sie werden dort noch nicht alles nachvollziehen können, aber auch auf den unbedarften Leser entfalten die Grafiken schon eine intuitive Wirkung. Und im Text erfahren Sie bereits einiges an Hintergründen für den unorthodoxen Einsatz von Pufferzeiten bei der Critical-Chain-Methode. Noch komprimierter erhalten Sie die erste visuelle Motivation, wenn Sie im Anhang ab Seite 353 die Baumbeispiele durchblättern.
Freilich sollten Sie es nicht dabei belassen. Wenn Sie sinnvoll mit dem Werkzeugkasten Goldratts arbeiten wollen, müssen Sie sich schon die Zeit nehmen, die zweihundert Seiten Grundlagen durchzuarbeiten. Zum Glück geht dies verhältnismäßig schnell. Zu verdanken ist dies der eingängigen und didaktisch guten Darstellungsweise des Autors, die tatsächlich ein flüssiges Lesen und Verstehen ermöglicht. Mit knappen und treffenden Zusammenfassungen unterstützt er das schnelle Repitieren, einfache Beispiele und Visualisierungen erleichtern das Begreifen.
So gerüstet können Sie die Herleitung der Critical-Chain-Methode anschließend nicht nur akzeptieren, sondern sicher auch kritisch hinterfragen. Nicht alles möchte ich dort widerspruchsfrei hinnehmen - aber endlich habe ich die zugrunde liegende Logik verstanden. Wenn in Zukunft ein Software-Hersteller behauptet, sein Tool könne "Critical Chain", denn wird er sich auf unangenehm detailliertes Nachfragen von mir gefasst machen müssen. Dank Uwe Löber, dessen Debüt als Fachautor mit "Wege zum Ziel" durchaus beachtenswert ist.